Der klinische Alltag stellt Ärztinnen und Ärzte täglich vor enorme Herausforderungen: Zeitdruck, emotionale Belastungen, organisatorische Hürden und die Verantwortung für schwerkranke Patient:innen führen häufig an die Grenzen der Belastbarkeit. Wir haben mit Dr. Julia Jückstock darüber gesprochen, wo die größten Stressoren liegen – und welche Strategien helfen, gesund, wirksam und mit Freude im Beruf zu bleiben.
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Frau Dr. Jückstock, viele Ärztinnen und Ärzte berichten von einer immer stärkeren Arbeitsverdichtung. Wie stark trägt dieser Zeitdruck tatsächlich zur Stressentstehung im Klinikalltag bei?
Dr. Julia Jückstock: Zeitdruck ist ein zentraler, aber nicht kontinuierlich präsenter Stressfaktor. Manche Phasen sind relativ ruhig, andere hochverdichtet. Die Unwägbarkeiten des Klinikalltags – Notfälle, Krankheitsausfälle im Kollegenkreis oder zusätzliche Konsile anderer Fachabteilungen – erschweren planbares Arbeiten erheblich. Selbst bei guter Organisation lässt sich der Druck nicht immer vermeiden, vor allem, wenn die Personaldecke dünn ist. Das Arbeitszeitgesetz schützt zwar die Beschäftigten, verschärft aber zugleich den Druck, Aufgaben innerhalb begrenzter Zeiträume zu bewältigen.
Das klingt nach einem ständigen Balanceakt. Wie gelingt es Ärztinnen und Ärzten unter diesen Bedingungen, Prioritäten zu setzen und Überforderung zu vermeiden?
Dr. Julia Jückstock: Teamabsprachen sind essenziell, um sich in Belastungssituationen gegenseitig zu stützen. Ebenso wichtig ist das Feedback an Vorgesetzte, wenn Strukturen überlastend wirken – nur so können Anpassungen erfolgen. Viele Stressoren resultieren aus ineffizienten Abläufen oder technischen Störungen, die sich oft mit geringem Aufwand beheben lassen. Überforderung entsteht häufig, wenn Aufgaben übernommen werden, die außerhalb der eigenen Kompetenz liegen. Hier sind Selbstschutz und Abgrenzung wichtig. Selbstfürsorge – etwa durch konsequente Pausen – ist kein Luxus, sondern Voraussetzung für Leistungsfähigkeit. Unterstützend wirken Seminare zur Selbstführung, wie das Hamburger Programm „My Mental Mentor“, das Themen wie Zeitmanagement, Selbstwirksamkeit und Feedbackkultur vermittelt.
Neben der Arbeitsdichte sind auch emotionale Belastungen ein großes Thema – etwa, wenn man Patient:innen mit schweren Krankheitsverläufen begleitet. Was passiert in solchen Situationen mit der psychischen Stabilität?
Dr. Julia Jückstock: Die individuelle Resilienz spielt eine zentrale Rolle. Persönlichkeitsfaktoren wie hohe Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus bei geringer Extraversion erhöhen das Risiko für Burnout und Depression [Costa & McCrae, 1988]. Wenn belastende Erlebnisse nicht besprochen werden, kumulieren sie und können langfristig die psychische Stabilität gefährden. Schuldzuweisungen verstärken diesen Effekt zusätzlich. Regelmäßige, moderierte Teamgespräche oder Supervisionen helfen dagegen, Erfahrungen zu verarbeiten und gegenseitiges Verständnis zu fördern – oft mit dem Ergebnis einer gestärkten psychischen Widerstandskraft.
Was können Ärztinnen und Ärzte konkret tun, um mit solchen emotionalen Belastungen professionell und zugleich gesundheitsförderlich umzugehen?
Dr. Julia Jückstock: Abgrenzung ist ein zentrales Prinzip – Belastendes sollte möglichst nicht ins Privatleben übergreifen. Gleichzeitig hilft der bewusste Einsatz von Empathie und emotionaler Intelligenz, schwierige Situationen zu bewältigen. Balint-Gruppen, Kommunikationstrainings oder strukturierte Fallnachbesprechungen sind bewährte Instrumente. Ebenso wichtig ist das Leben außerhalb des Berufs: Familie, soziale Kontakte und Hobbys bieten emotionale Stabilität. Nicht zuletzt stärkt die Reflexion schwieriger Situationen die eigene Handlungskompetenz – wer fragt, was er daraus lernen kann, wächst an Belastungen.
Neben den direkten Patient:innenkontakten empfinden viele die Bürokratie als besonders belastend. Warum ist das so?
Dr. Julia Jückstock: Bürokratische Tätigkeiten werden selten als sinnstiftend wahrgenommen und gehören nicht zum Kern des ärztlichen Handelns. Der administrative Aufwand nimmt stetig zu, während digitale Systeme häufig unzuverlässig arbeiten. Zudem ändern sich Anforderungen regelmäßig, etwa durch erweiterte Dokumentationspflichten oder neue Software-Programme. Das führt zu Frustration und dem Gefühl, wertvolle Zeit nicht für Patient:innen nutzen zu können – eine zentrale Quelle beruflicher Unzufriedenheit.
Was hilft, diese bürokratischen Anforderungen besser zu bewältigen?
Dr. Julia Jückstock: Zunächst sollten gezielte Schulungen und der kollegiale Austausch genutzt werden, um Routine und Sicherheit zu gewinnen. Strukturelle Maßnahmen wie die Verwendung von Textbausteinen, feste Bearbeitungszeiten, oder die klare Aufgabenverteilung im Team reduzieren Ineffizienz. Auch kleine Störfaktoren – etwa technische Probleme mit dem Drucker oder Unterbrechungen – sollten bewusst minimiert werden, da sie in Summe erheblichen Stress erzeugen.
Ein weiterer Belastungsfaktor ist das Miteinander im Team – vor allem in hierarchischen Strukturen. Was kann man tun, um Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen?
Dr. Julia Jückstock: Ein gesundes Teamklima ist eine der stärksten Schutzressourcen. Teambildende Maßnahmen, regelmäßige Besprechungen auch ohne unmittelbar medizinische Thematiken und ein wertschätzender Umgang fördern Zusammenhalt. Führungskräfte haben hierbei eine Schlüsselrolle: Sie sollten Transparenz und Fairness leben, Bevorzugungen vermeiden und gleiche Chancen für alle schaffen. Job-Rotation oder Simulationstrainings, bei denen Teammitglieder verschiedene Rollen übernehmen, können zusätzlich das Verständnis füreinander stärken. Nach kritischen Situationen hilft ein moderiertes Debriefing, Konflikte zu vermeiden und Erlebtes aufzuarbeiten.
Wenn man all das zusammenfasst – welche Faktoren sind entscheidend, um langfristig resilient zu bleiben und eine gesunde Work-Life-Balance zu bewahren?
Dr. Julia Jückstock: Resilienz entsteht aus Selbstwahrnehmung, Kommunikation und Sinnorientierung. Ärztinnen und Ärzte sollten lernen, eigene Bedürfnisse ernst zu nehmen und zu äußern. Eine offene Fehlerkultur, respektvolle Kommunikation und gegenseitige Wertschätzung fördern psychische Stabilität im Team. Auch Weiterentwicklungsmöglichkeiten tragen zur Zufriedenheit bei. Wer Sinn in seiner Arbeit erlebt, ist langfristig motivierter und belastbarer. Sollte dieser Sinn verloren gehen, ist es wichtig, die Ursachen zu reflektieren und gezielt Veränderungen einzuleiten.
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