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Dogan Gülsen über den strukturellen Wandel im stationären Einzelhandel

Dogan Gülsen ist Immobilien-Fachmann und Gründer der DCE Real Estate, die sich auf die Entwicklung und das Management von Wohn- und Gewerbeimmobilien spezialisiert hat

Die Funktionslogik des innerstädtischen Einzelhandels hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Was in früheren Dekaden als stabiler Motor urbaner Vitalität galt, ist heute vielfach von Rückbau, Nutzungsaufgabe oder funktionaler Neuorientierung geprägt. Die Ursachen dieses Wandels sind weder kurzfristig noch singulär – sie beruhen auf längerfristigen Veränderungen im Konsumverhalten, auf technologischen Entwicklungen sowie auf verschobenen Erwartungen an städtische Räume. Für die Stadtentwicklung, aber auch für die projektseitige Planung und Umsetzung, ergibt sich daraus die Notwendigkeit, Standorte nicht mehr eindimensional nach ihrer Verkaufsfähigkeit zu beurteilen. Vielmehr geht es um die Integration multifunktionaler Nutzungsmuster, die aus stadtökonomischer und immobilienwirtschaftlicher Sicht belastbar sind. Die Wilhelminenpassage Darmstadt ist ein Beispiel für diesen Typus integrierter Stadtbausteine, bei denen Nutzungsmischung nicht als Zugeständnis, sondern als Ausgangspunkt der Konzeption verstanden wurde.

Lange Zeit galt der Einzelhandel als Leitnutzung in den Innenstadtlagen. Frequenz, Sichtbarkeit und Erreichbarkeit waren planerisch dominant und andere Nutzungen hatten sich diesen Anforderungen unterzuordnen. Diese Hierarchie hat sich inzwischen deutlich verschoben. Heute zeigt sich, dass monofunktionale Handelslagen nicht mehr die strukturelle Robustheit besitzen, die für langfristige Standortqualität erforderlich ist. Die Gründe hierfür sind empirisch gut belegt. Der Onlinehandel hat klassische Sortimente dauerhaft verdrängt oder zumindest stark geschwächt. Die reine Verkaufsfläche verliert damit an Alleinberechtigung. Gleichzeitig sind auch die ökonomischen Belastungen wie Mieten, Energiekosten, Personalkosten in zentralen Lagen so hoch, dass viele Handelskonzepte ihre Wirtschaftlichkeit dort nicht mehr abbilden können.

Damit geht der Einzelhandel von einer tragenden zu einer begleitenden Funktion über. Er bleibt Bestandteil des Nutzungsmix, aber nicht mehr dessen alleiniger Anker. Die planungsseitige Konsequenz daraus lautet: Es bedarf robuster Hybridnutzungen, die Frequenz nicht nur über Konsum erzeugen, sondern durch die Kombination von Wohnen, Arbeiten, Aufenthalt und Versorgung.

Wilhelminenpassage Darmstadt: Mischnutzung als strukturtragendes Element

Die Mischnutzung hat sich in diesem Kontext als ein zentrales Steuerungselement bewährt und das nicht nur zur Flächenauslastung, sondern auch zur Erhöhung der sozialen Resilienz. Gerade in innerstädtischen Lagen, wo Flächendruck, Nutzungsinteressen und städtebauliche Zielsetzungen aufeinandertreffen, ermöglicht die Kombination mehrerer Nutzungsarten eine langfristige Tragfähigkeit. Im Fall der Wilhelminenpassage Darmstadt wurde dieser Ansatz konsequent umgesetzt. Die vormals rein kommerzielle Struktur wurde durch eine vertikale und horizontale Mischung ergänzt: Wohnungen, Büroflächen, Gastronomie und ausgewählte Handelsnutzungen bilden nun ein Gefüge, das über den gesamten Tagesverlauf aktiv ist und unterschiedliche Zielgruppen bedient. Auf diese Weise entstand ein funktionales Gleichgewicht, das klassische Auslastungsdefizite, wie sie bei reinen Handelslagen in den Abendstunden oder am Wochenende häufig auftreten, vermeidet. Das Projekt zeigt, dass Mischnutzung nicht als Nebeneinander, sondern als ineinandergreifende Struktur gedacht werden muss. Nutzungsschnittstellen – wie etwa zwischen Gastronomie und Büro, oder zwischen Wohnen und Nahversorgung – sind keine Störfaktoren, sondern Träger urbaner Dynamik. Entscheidend ist die planerische Fähigkeit, diese Schnittstellen nutzbar zu machen, räumlich zu ordnen und baulich abzubilden.

Der Wandel im Konsumverhalten

Ein zentrales Merkmal des Strukturwandels ist die zunehmende Digitalisierung des Konsums. Diese Entwicklung hat nicht nur das Kaufverhalten verändert, sondern auch das Anforderungsprofil an Flächen. Stationäre Verkaufsstellen sind heute vielfach Showroom, Logistikpunkt oder Kontaktzone. Die klassische Funktion der unmittelbaren Warenübergabe tritt in den Hintergrund. Hieraus ergeben sich neue räumliche Anforderungen. Flächen müssen flexibel, teilbar, modular und infrastrukturell anschlussfähig sein. In der Wilhelminenpassage Darmstadt wurde dies durch ein Flächenlayout ermöglicht, das sowohl kleine Mieteinheiten als auch zusammenhängende Großflächen zulässt. Zugleich wurden Aufenthaltsqualitäten im Außenraum geschaffen, die den Konsumraum in einen städtischen Raum überführen. Der wirtschaftliche Erfolg einzelner Nutzer ergibt sich zunehmend aus ihrer Einbettung in einen tragfähigen Standortkontext. Eine Ladenfläche funktioniert nicht mehr isoliert, sondern nur als Teil eines funktionierenden urbanen Systems.

Aus immobilienwirtschaftlicher Sicht lässt sich die Wilhelminenpassage Darmstadt nicht nur als Objekt, sondern als strukturelles Element innerhalb des innerstädtischen Gefüges lesen. Der Eingriff war nicht punktuell, sondern flächenwirksam. Die Passage verbindet Durchwegungen, schafft Blickachsen, aktiviert bestehende Stadtkanten und integriert neue Nutzungseinheiten in das bestehende Quartier. Diese Art von Entwicklung folgt einem anderen Planungsparadigma. Es geht nicht um die Optimierung einzelner Flächenkennzahlen, sondern um die Leistungsfähigkeit des Gesamtgefüges. Frequenz, Aufenthaltsqualität, Nutzungsdurchmischung, aber auch soziale Kontrolle und Erreichbarkeit werden als gleichwertige Parameter behandelt.

Aus Sicht der Stadtentwicklung ist dieser Ansatz zukunftsweisend. Er macht die Immobilie zum Träger städtischer Prozesse – nicht nur als Nutzfläche, sondern als sozialer, wirtschaftlicher und gestalterischer Knotenpunkt.

Perspektiven für vergleichbare Stadtlagen

Die Erkenntnisse aus der Wilhelminenpassage Darmstadt lassen sich auf viele innerstädtische Kontexte übertragen, insbesondere dort, wo großflächige Handelslagen an Bedeutung verlieren und neue Konzepte erforderlich sind. Mischnutzung, Omnichannel-Integration und flexible Gebäudestrukturen sind dabei keine Add-ons, sondern integrale Bestandteile zukünftiger Stadtbausteine. Wesentlich ist, dass solche Projekte frühzeitig in städtische Planungsprozesse eingebunden werden. Städtebau, Nutzungskonzept und Betriebsperspektive müssen zusammen gedacht werden. Nur so kann langfristige Tragfähigkeit erreicht werden – ökonomisch wie sozial.

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